Esther Ebe 1937 in Frankfurt/Main © Kößler/Rieber/Gürsching
Esther Ebe 1937 in Frankfurt/Main © Kößler/Rieber/Gürsching
Im Jahr 1939 ein Visum für Großbritannien zu ergattern, glich einem Lotteriegewinn, erinnerte sich Esther Clifford, geborene Ebe, später in den USA.Am 28. Oktober 1938 wurden die 17-jährige Esther und ihre Eltern, gebürtige Warschauer, mit zwei ihrer vier Geschwister nach Polen abgeschoben. Da Esther kurz vor ihrem 18. Geburtstag keinen eigenen Pass besaß, wurde sie von ihrer Familie an der polnischen Grenze – in Zbaszyn – getrennt. Herausgezogen aus der Schlange der Ausgewiesenen verfolgte sie aus den Augenwinkeln den Abmarsch ihrer Familie in ein ungewisses Schicksal. Mit einer Vielzahl weiterer Menschen wurde sie in einer leer geräumten Synagoge untergebracht. Niemand versorgte sie mit Essen und Trinken, einzig den in der Stadt lebenden Juden wurde die Versorgung erlaubt. Nach wenigen Tagen kam ein junger Jude auf sie zu und signalisierte, dass das Tor offen stünde und auch keine Wache in Sichtweite sei. Diesen günstigen Augenblick nahm sie wahr und floh. Die hilfreichen Juden von Zbaszyn kauften ihr eine Zugfahrkarte nach Frankfurt, und noch vor dem 9. November stand sie vor der einstigen elterlichen Wohnungstür in der Hanauer Landstraße 84 im Frankfurter Ostend. Ein christlicher Nachbar öffnete ihr die versiegelte Tür. Kein Zufluchtsort, aber immerhin eine vorübergehende Bleibe. Über den mitleidigen Nachbarn bekam sie ein bisschen Geld in die Hand, als er ihr einige Habseligkeiten abkaufte. Damit fuhr sie zu ihrer Schwester nach München. Aber auch dort konnte sie nur vorübergehend bleiben, denn die Schwester besaß bereits eine Fahrkarte nach Schanghai. Esther kehrte nach Frankfurt zurück. Kurze Übernachtungsgelegenheiten bei ihrer ehemaligen Lehrherrin auf der Zeil, bei einem Lehrer vom Philantropin und schließlich bei ihrer Freundin Hertha Hahn und deren Eltern in der Telemannstraße 20 folgten. Auch die Familie Hahn saß auf gepackten Koffern. Gustav und Recha Hahn hatten Haus und Geschäft in Frankfurt-Fechenheim verkauft und warteten auf ihr Einreisevisum aus Großbritannien. Für ihre 17-jährige Tochter Hertha hatten sie sogar eine zweite Absicherung zur Ausreise in die Wege geleitet: Nach Kochkurs und Sprachunterricht konnten sie ihr ein Domestic Permit besorgen, mit dem eine Anstellung in einem britischen Haushalt verbunden war. Dieses bereits bewilligte Domestic Permit ließen die Hahns auf den Namen der Freundin Esther übertragen, weil sie mit ihrer baldigen gemeinsamen Ausreise rechneten. Ein Visum in dieser Zeit aus NS-Deutschland für Großbritannien zu bekommen, war wie ein Lotteriegewinn.Am 17. Mai 1939 emigrierte Esther nach London. Dort angekommen erkundigte sie sich nach den Visa für die Familie Hahn und man bestätigte ihr, dass sie in den nächsten Tagen versandt würden. Aber aus den Tagen wurden Wochen und bis zum Kriegsbeginn im September 1939 hatte es die Familie Hahn nicht geschafft, die vermeintlich rechtzeitig organisierte Ausreise antreten zu können. Bei der ersten großen Deportation am 19. Oktober 1941 wurden sie in das Ghetto Lodz deportiert und ermordet. Auch Esther sah ihre Eltern, Schwester Rosa und Bruder Leo nie wieder. Mit ihrem späteren Mann zog sie nach 1945 in die USA.Nach Kriegsbeginn am 1. September 1939 waren die Schlupflöcher zur Flucht nach Großbritannien mit Hilfe eines Transit-Visums, eines Domestic Permits oder einem Platz im Rahmen der Kindertransporte verschlossen.
... und Ende der 80er Jahre als verheiratete Esther Clifford in den USA. © Kößler/Rieber/Gürsching
… und Ende der 80er Jahre als verheiratete Esther Clifford in den USA. © Kößler/Rieber/Gürsching
Zu Esther Clifford, in: .. „daß wir nicht erwünscht waren“, Hg.:Kößler/Rieber/Gürsching, Frankfurt/Main 1993, S. 108-112 und Esther Clifford, in: Elaine Landau, We survived the Holocaust, New York 1991, S. 24-29. Siehe zur Abschiebung nach Polen, Rückkehr und späterer Illegalität in Wiesbaden: Naftali und Sophie Rottenberg, in: Heike Drummer - Gegen den Strom - Hrsg.: Fritz Backhaus/Monica Kingreen, Begleitbuchzur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum, Frankfurt/Main 2012, S. 45-47.

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