Tuschi Müller erhielt eine Vorladung zur Gestapo, nachdem ihre geflüchtete Schwester Eva nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz erschienen war. Verzweifelt meldete sie sich bei Margarete Kahl, die sie sofort in ihr Haus holte. In der Waschküche der Blanchardstrasse 22 konnte sie unterkommen, und die Kahls planten mit ihr das weitere Vorgehen. Tuschi war sehr ängstlich, sodass für sie ein Weg über die grüne Grenze in die Schweiz nicht in Frage kam. So wurde ihr ein neuer Lebenslauf verpasst und ein dazu gehöriger Pass auf den Namen Ruth Hoefler. Um auf diese neuen biographischen Daten im Notfall sicher zu reagieren, wurde Tuschi in der Nacht von Margarete Kahl geweckt und abgefragt. Gleich zu Beginn ihrer Flucht saß sie mit SS-Männern im Zugabteil und ließ sich ihre Ängste nicht anmerken. Nur ihren Zielort Budapest erreichte sie nicht, der Grenzübertritt scheiterte. Für den ausweglosen Notfall hatte ihr Dr. Kahl Zyankali mitgegeben, welches sie in ihrem Dutt versteckte. Auf gar keinen Fall wollte sie sich bei einer möglichen Kontrolle hilflos in die Hände der Gestapo begeben. Aber zum Glück brauchte sie das Gift nicht.Tuschi Müller blieb in Wien hängen. Ausgerechnet in der „Löwenhölle“, gemeint war die Kopieranstalt des Nazi-Gauleiters von Wien, fand sie eine Anstellung. Ihre hervorragenden Fälscherdokumente und die Tarnung machten ihr nach Kriegsende Schwierigkeiten, ihre jüdische Herkunft zu beweisen. Sie wandte sich an ihren Retter Dr. Kahl, der mit einer schriftlichen Erklärung aushalf. Die erste Chance zur Emigration in die USA nach dem Krieg nutzte Tuschi und ging zu Freunden nach Los Angeles. Sie blieb den Söhnen der Kahls auch nach dem Tod der Eltern freundschaftlich verbunden. Als diese nach Zeugnissen für die Ehrung ihrer Eltern durch die Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ suchten, baten sie auch Tuschi Müller um ein paar Worte dazu. Sie antwortete sehr spät und nach langem Zögern: „Ursache? Weil ich ungern in der Vergangenheit wühle. …“.
Siehe: Petra Bonavita, Mit falschem Pass und Zyankali, Stuttgart 2009, S. 24-27.