Der nächste Versuch sollte über Straßburg in die Schweiz führen. Sally erinnerte sich an einen Freund und hoffte, ihn irgendwie in Straßburg ausfindig zu machen. Wieder erreichten sie in Milchzügen ihr Ziel und suchten bei privaten Zimmervermietern ihr Glück. In der „rue Kuhn“ in unmittelbarer Nähe vom Straßburger Bahnhof kamen sie bei einer Familie Fiegenwald unter. Weil ihre Gastgeber keinen Hehl aus ihrer anti-nationalsozialistischen Gesinnung machten, erzählten sie ihnen ihr tatsächliches Anliegen – die Flucht in die Schweiz. Fiegenwalds versprachen, sich nach dem Freund umzuhören, den sie auch tatsächlich ausfindig machten. Viel Zeit verging, bis es ihrem Freund gelang, Kontakt zu einer Untergrundbewegung aufzunehmen, die ein halbes Jahr zuvor den aus einer Festungshaft entflohenen französischen General Giraud über die Grenze geschleust hatte. Wenn sie es bis nach Mülhausen (Mulhouse) schafften, würde sich ein Mann mit ihnen in Verbindung setzen. Dort wurde ihnen der Vorschlag unterbreitet, auf einen Zug aufzuspringen. Sally sagte sofort: Ja! Zwei Wochen warteten sie im Hotel du Parc auf den richtigen Zeitpunkt. In aller Frühe gingen sie zum Bahnhof St. Louis und sprangen auf einen Güterzug. Aber nur Sally schaffte den hohen Sprung auf die Plattform und verließ am 21. Januar 1943 morgens um 6 Uhr auf der Schweizer Seite den Zug. Hanna gelang der Sprung nicht im ersten Anlauf, sie blieb zurück. Zehn Tage später am 2. Februar um 4 Uhr früh gelang auch ihr mit Hilfe desselben jungen Mannes die Fahrt auf das sichere Schweizer Terrain. Bei der ersten Gelegenheit nach Kriegsende im Jahr 1946 emigrierten Hanna und Sally Goldschmidt mit ihrem einjährigen Sohn zu Verwandten in die USA.
Siehe: Interview mit Hanna Goldsmith der Shoah-Foundation, in: US Holocaust Memorial Museum Washington, Collection 38581.Petra Bonavita: Mit falschem Pass und Zyankali, S. 58/59