Ein Zeuge der Vernichtung als Aufklärer für das Ausland
Das Bockenheimer Netzwerk rettet Robert Eisenstädt
Dr. Kahl erfuhr von Soldaten, die während ihres Fronturlaubs in seine Praxis kamen, von den wahren Absichten einer in der NS-Sprache als „Evakuierung in den Osten“ bezeichneten Deportation, die zur Vernichtung der Menschen führte. Mit den Schilderungen des jungen 23-jährigen Robert Eisenstädt aus Hanau, der aus dem Lager Majdanek im Juli 1942 geflohen war und ihn um ärztlichen Rat bat, bekamen die Berichte der Soldaten zusätzliches Gewicht. Nach mehreren Monaten intensiver Diskussionen entschieden die Fluchthelfer, dass dieser Bericht des Augenzeugen Eisenstädt die Welt über die Mordabsichten der Nationalsozialisten informieren müsse. Seine Flucht in die Schweiz würde außerdem sein Leben retten können.Ausgerechnet in diesem Herbst 1942 hatte Welke von den Schweizer Helfern erfahren, dass Flüchtlinge auch nach Betreten der schweizerischen Seite nach NS-Deutschland zurück und damit in den sicheren Tod geschickt wurden. Ausnahmen wurden bei minderjährigen Personen und sozialen Härtefällen, z.B. schwangeren Frauen und deren Angehörigen gemacht. Robert Eisenstädt wollte nun nicht mehr alleine flüchten, sondern seine Verlobte Eva Müller mitnehmen. Da sie als ungarische Jüdin ebenfalls gefährdet war, wurden die Fluchtpläne sorgfältig vorbereitet.Wenn Eva Müller nun schwanger wäre? Wann wäre dann eine Flucht zeitlich anzusetzen? Wo sollte Robert Eisenstädt bis dahin untergetaucht leben?Eisenstädt schrieb über diesen Plan in seinen Erinnerungen: „Dr. Kahl found out that Switzerland was not able to take more refugees in, except pregnant women or people with small children. I was not able to sire a child. Dr. Kahl examined my sperms and discovered that a very few were alive. He separated them and performed an artifical insemination. It worked. When Eva’s pregnancy became visible we had to make a move“.Für die lange Dauer der Illegalität in Frankfurt und Hanau erhielt Robert Eisenstädt Ende November 1942 von dem Verlobten seiner Schwester, Hans Waider, einen gefälschten Dienstausweis. Hans Waider und Martha Eisenstädt durften aufgrund der „Nürnberger Gesetze“ nicht mehr heiraten. Sie hatten seit 1938 einen kleinen Sohn Heinz. Es war besprochen, dass Martha mit dem Kind in einer Gartenhütte der Eltern Waider untertauchen sollte. Aber diese Pläne zerschlugen sich, und Waider war sehr betroffen, als er von ihrer Deportation hörte. Dennoch erklärte er sich bereit, Marthas Bruder zu helfen. Er stahl in einem Wehrmachtsbüro einen Dienstausweis und bot Lebensmittel und erneut die Gartenhütte als Zuflucht an. In den nächsten Monaten lebte Eisenstädt mal in Hanau bei den Eltern Waider, dann wieder bei der Verlobten Eva in Frankfurt. Unterdessen besorgten Dr. Kahl und Freunde Dokumente zur Flucht für die Verlobte Eva Müller. Sie stiegen in die Wohnung einer Arbeitsdienstführerin ein und stahlen einen Ausweis, der für Eva Müller die Bahnfahrt sichern half. Der Kriminalbeamte Gentemann gab Eisenstädt eine Pistole für den Fall mit, dass die Flucht scheiterte. Welke fuhr in die Grenzregion, erkundete den Fluchtweg und übermittelte den Schweizer Fluchthelfern die baldige Ankunft. Die Flucht glückte am 23. Februar 1943.
Siehe: Internetportal der Gedenkstätte Stille Helden Berlin, darin Biografien zu Dr. Fritz Kahl, Robert Eisenstädt und Hans Waider; Interview der Shoah-Foundation mit Robert Eisenstädt, in: USHMM Washington; Petra Bonavita, Mit falschem Pass und Zyankali, Stuttgart 2009, S. 17-23.