Tragisch endete die Flucht von Berlin über Frankfurt nach Straßburg für zwei Frauen mit drei Kleinkindern. Die beiden Schwestern Gerda und Eva Rothschild, in Straßburg geboren, wohnten seit mindestens 1939 in Frankfurt. Mit ihnen lebte eine nicht-jüdische Verwandte gleichen Namens in dem Ghettohaus in der Hans-Handwerk-Strasse 63 (heute: Langestrasse). Zwei Monate nach der Geburt des Kindes Judis Rothschild entzogen sich die Frauen der Deportationsverfügung und flüchteten nach Straßburg. Bis Ende 1943 schlugen sie sich mit dem Baby und zwei zehnjährigen Kindern durch, bis ihre Namen in einer Gefängnisliste auftauchen. Aus dem Strafgefängnis Straßburg am 12. Januar 1944 nach Berlin „verschubt“ wurden sie umgehend am 20. Januar 1944 mit ihren Kindern in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet. Über die nicht-jüdische Verwandte ist nichts weiter bekannt.Das Ehepaar Max und Rosa Sachs tauchte mit ihren zwanzig Jahre alten Zwillingen Margarete und Ilse in Berlin unter. Nach einem Monat entschlossen sie sich für das Ruhrgebiet als Zuflucht. Weil es stark von Bombardierungen betroffen war, sahen sie hier mehr Chancen, sich als Fliegergeschädigte durchzuschlagen. Nach jedem Bombenangriff gab es so genannte Freibrote, erklärte Max Sachs diese Entscheidung, und „ihr Glück“ waren diese häufigen Bombenangriffe. Von Bochum gingen sie nach Kassel und wieder zurück nach Dortmund, das zum Schicksalsort wurde. Am 29. Juni 1943 wurden während ihrer Abwesenheit ihre Zwillingstöchter verhaftet und im August 1943 über Berlin in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Max und Rosa Sachs irrten weiter umher und wohnten schließlich ab 30. August 1943 in Frankfurt: zur Untermiete zuerst in der Seehofstrasse, später in der Moselstrasse, im Hotel „Hamburger Hof“ und erneut zur Untermiete in der Weserstrasse. Sie überlebten. Ihre Töchter sahen sie nicht wieder.
Petra Bonavita, Die Bildhauerin und das Kind, Schmetterling Verlag Stuttgart, 2021
Eine Mehrheit der in Frankfurt untergetauchten Juden flüchtete aus der Stadt. Für viele boten die Fliegerangriffe auf das Stadtgebiet die Gelegenheit, sich als Fliegergeschädigte um Ersatzdokumente zu bemühen und darüber die wahre Herkunft verschleiern zu können. Nur mit einem solchen Ausweis konnte die wichtige Lebensmittelkarte beantragt werden. Sich in Frankfurt selbst als ausgebombt zu melden, schien offenbar zu riskant.Anders sah es für Berliner Juden aus. Das Stadtgebiet war riesig und die Anonymität der Großstadt bot Chancen, aus dem Blickfeld des alteingesessenen Stadtviertels zu verschwinden. Auch der Berliner Gestapo waren die Schwachstellen bewusst und sie warb „Greifer“ an, die, um ihr eigenes Überleben zu sichern, ihre jüdischen Mitmenschen denunzierten. Auf der Suche nach auswärtigen Quartieren suchten daher Berliner Verfolgte in Frankfurt illegal zu überleben.Aus Berlin flüchtete Toni Schneider, die Mutter des Röntgenarztes am Frankfurter Gagern-Krankenhaus Dr. Günther Schneider. Im Haus der Familie Schäfer wurde sie versteckt und unter dem Tarnnamen Margarete Maurer aufgenommen. Eine gelungene Verschleierung, denn unter dem Namen Maurer lebten zwei Schwestern als Untermieterinnen im Haus. Toni Schneider überlebte. Adelheid und Werner Müller in Berlin gehörten zu den in Zwangsarbeit eingesetzten Juden in kriegswichtigen Industriebetrieben. Bei der so genannten Fabrikaktion Ende Februar 1943 sollten sie aus Berlin deportiert werden und tauchten mit ihrer dreijährigen Tochter unter. Seit langem diskutierte ein kleiner Freundeskreis, wie ihnen zu helfen wäre, sollten sie zur Deportation aufgefordert werden. Franz Streit bot seine Hilfe an. Er arbeitete in der Widerstandsgruppe um Anton Saefkow mit. Zu den Freunden des Musiker-Ehepaares zählte auch die Bildhauerin Hedwig Wittekind.Ende Februar tauchte Werner Müller daher bei Franz Streit unter, während Adelheid Müller mit ihrer dreijährigen Tochter Tanja „auf Reisen“ ging. Lange hielt Adelheid das nicht durch; im Mai kehrte sie nach Berlin zurück und tauchte bei Hedwig Wittekind im Atelier unter. Aber auch für Wittekind war die Lage prekär. Sie lebte von den Zuwendungen ihres Vaters aus Büdingen, denn als Bildhauerin konnte sie in den Kriegsjahren kaum überleben. Die Gruppe entschied, dass Wittekind in ihr Elternhaus zurückkehren und dabei die dreijährige Tanja mitnehmen sollte. Aus einem nachträglichen Eintrag in den Einwohnermeldeunterlagen von Büdingen für den Oktober 1943 ist ersichtlich, dass Hedwig Wittekind wieder in ihrem Elternhaus wohnte. Zu dem Kind Tanja Müller gibt es allerdings keinen Eintrag.Es ist nicht bekannt wie Hedwig die Existenz des Kindes gegenüber ihren Eltern erklärte. Sie war immerhin zu dieser Zeit 47 Jahre alt und hatte seit Jahren als Bildhauerin kaum ihren eigenen Unterhalt finanzieren können. Bekannt ist, dass sie sich mit der zweiten Ehefrau ihres Vaters nicht verstand, die ihren als Bohème ausgelegten Lebensstil nicht akzeptierte. Das könnte der Grund dafür gewesen sein, dass Tanja Müller in dem nur hundert Meter hinter dem Hause Wittekind gelegenen NS-Kinderheim „Am Wildenstein“ untergebracht wurde.Unterdessen lebten Franz Streit mit Adelheid und Werner Müller in Wittekinds Atelier in Berlin-Friedenau. Dort wurden alle drei am 20. Juli 1944 verhaftet. Franz Streit wurde ein halbes Jahr später als Mitglied der Widerstandsgruppe um Saefkow hingerichtet, Werner Müller kam im Konzentrationslager ums Leben, seine Ehefrau Adelheid überlebte das Lager. Sie konnte Tochter Tanja 1946 aus Büdingen nach Berlin holen.Hedwig Wittekind ist als couragierter und gerecht denkender Mensch in Erinnerung geblieben. In der Traueranzeige zu ihrem Tod am 31. Oktober 1949 steht geschrieben: „Sie war arm an äußeren, aber reich an inneren Gütern“.
Siehe den Beitrag zu Adelheid Müller, in: Informationen Nr. 82 vom November 2015 des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945, S. 25 f.